«Ich gehe fast mehr in die Kirche als vor Corona»

In der Stadtkirche Winterthur besuchten am Freitagmorgen rund 50 Personen den Gottesdienst. Nach dem Ausfall letztes Jahr waren sie froh, wieder vor Ort kommen zu dürfen.

Text: Nina Thöny, Fotos: Marc Dahinden

Viele Bänke bleiben am Morgen des Karfreitags leer. Im linken Kirchenschiff sitzt nur ein Mann, im rechten ebenso. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Festgottesdienstes der Stadtkirche Winterthur verteilen sich auf die mittleren Bänke, insgesamt sind es 48 meist ältere Personen. Die Freude ist ihnen trotz Maske anzusehen.

Etwa Annelise Erhardt, die mit Abstand neben ihren Freundinnen sitzt. Der direkte Kontakt zur Kirchgemeinde sei für sie sehr wichtig, sagt sie. «Wenn ich allein zu Hause am Computer die Übertragung anschaue, kann ich niemandem zuwinken oder kann nicht im Anschluss plaudern.» Der letzte Karfreitag, an dem alles ausfiel, sei schlimm gewesen für sie. Und:

«Als ein Pfarrer am Radio das Vaterunser allein gesprochen hat, sind mir die Tränen gekommen.»

Annelise Erhardt, Kirchgängerin

Die Gottesdienste in der Stadtkirche sind mittlerweile zu ihrem Fixpunkt geworden. «Ich gehe fast mehr in die Kirche als vor Corona.»

In der dritten Reihe hat Christine Denzler Platz genommen. Die Stadtkirche bedeutet der Pfarrerstochter viel, 12 Jahre war sie in der Kirchenpflege tätig, und ihre Enkelkinder wurden hier getauft. «Gottesdienste haben etwas Meditatives für mich», sagt sie. Die Energie nehme sie jeweils mit in ihre Woche. Letztes Jahr an Ostern habe sie am Fernsehen einen Gottesdienst geschaut. Und die Kinder konnte sie nicht nach Hause einladen, wie es in der Familie Tradition sei. «Das war brutal», sagt sie.

Wenn die Kirche Leute abweisen muss

Allmählich verklingen die Kirchenglocken, die schwere Tür fällt ins Schloss, und einen kurzen Moment lang ist es ganz still. Dann leiten kräftige Orgelklänge den Gottesdienst ein. Pfarrerin Henrike Stauffer-Knoll begrüsst nicht nur die physisch anwesende Gemeinschaft. «Ein herzliches Willkommen gilt auch Ihnen allen zu Hause, die uns per Livestream zugeschaltet sind», sagt sie in Richtung Kamera. Stauffer wurde am Mittwoch pensioniert, dieser Gottesdienst ist einer ihrer allerletzten.

Pfarrerin Henrike Stauffer-Knoll spricht zur physischen Kirchgemeinde, aber auch zur digitalen.

«Ich bin sehr dankbar, dass wir jetzt Gottesdienste abhalten dürfen», sagte sie im Vorfeld. Letztes Jahr fiel das Osterfest aufgrund der Pandemie ganz weg. Nun gilt eine Personenobergrenze von 50. An normalen Karfreitagen würden etwa 120 Personen den Gottesdienst besuchen, das Karfreitagskonzert am Nachmittag gar 250. Stauffer schmerzt, dass sie derzeit manchmal Leute abweisen müssen. Sie sagt:

«Die Kirche sollte eigentlich offen sein für alle.»

Henrike Stauffer-Knoll, Pfarrerin

Stauffer stellt ein Passionslied des deutschen Kirchenliederdichters Paul Gerhardt ins Zentrum des Gottesdienstes. Dessen Lieder hätten sie seit frühester Kindheit begleitet, verrät sie. Organist Tobias Frankenreiter und Bratschistin Tabea Kämpf spielen das Lied «O Haupt voll Blut und Wunden» vor, David Bertschinger und Käthi Weber singen die Strophen dazu. Ein älterer Mann döst ein und schreckt erst ob eines lauten Klangs der Viola wieder hoch.

Sie sorgten für Musik: David Bertschinger, Käthi Weber, Organist Tobias Frankenreiter und Bratschistin Tabea Kämpf.

Trotz allem sehr besinnlich

Die Pfarrerin spricht über den Inhalt des Liedes, aber auch von der Wortwahl Gerhardts. Einige Personen blicken gespannt zur Kanzel hoch, andere konzentriert zu Boden. Zwischendurch öffnet sich die Tür, ein junges Paar in Wandermontur guckt herein und schleicht dann zur hintersten Bankreihe. Sie verharren einige Minuten, bevor sie wieder raushuschen. Alle anderen erheben sich, um das Vaterunser zu beten. Für den Segen hebt Pfarrerin Stauffer ihre Arme.

Beim Ausgang staut es dann ein wenig, wenn alte Bekannte noch einen kurzen Schwatz halten. Hans-Rudolf Lacher steht etwas abseits. Der Gottesdienst habe ihm sehr gut gefallen, sagt er, «es war eine sehr intime und persönliche Begegnung mit dem Passionslied». Der Gesang der Kirchgemeinde fehle, doch die Solostimmen seien ein recht guter Ersatz. Persönlich vermisse er in diesem Jahr vor allem das Abendmahl der Stadtkirche. «Das hätte ich gerne gefeiert.»

Reto Stocker neben ihm hält die Blätter mit dem Liedtext und der Predigt in der Hand. «Ich werde sie zu Hause nochmals in Ruhe lesen», sagt er. Mit den aktuellen Beschränkungen habe er den Gottesdienst sogar besonders intensiv und besinnlich erlebt. Er sagt:

«Ich war ganz da.»

Reto Stocker, Kirchgänger

*Dieser Artikel wurde am 2. April 2021 auf www.landbote.ch publiziert.

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