Die Kantonspolizei Zürich rechnet mit einem neuen Höchstwert in Bezug auf häusliche Gewalt. Die Geschäftsleiterin des Winterthurer Frauenhauses fürchtet vielmehr Corona-Infektionen im eigenen Haus.
Text: Nina Thöny, Foto: zvg
Im Frühling warteten alle auf den Ansturm: Behörden, Fachleute und Polizei. Der Lockdown werde zu mehr häuslicher Gewalt führen, so die Befürchtung. In China etwa, wo die ersten Lockdowns über ganze Regionen verhängt wurden, verzeichnete eine Nichtregierungsorganisation im Februar gemäss Medienberichten dreimal mehr Vorfälle als im selben Monat des Vorjahres. Doch die Telefone der Zürcher Frauenhäuser klingelten nur selten. Es war fast schon gespenstisch ruhig.
Nun, Ende Jahr, zeichnet sich ein anderes Bild. Nach den Sommerferien zog die Situation an, sagt Katja Niemeyer, die Geschäftsleiterin des Frauenhauses Winterthur. «Während mehrerer Wochen waren alle drei Zürcher Frauenhäuser voll.» Auch in anderen Kantonen seien die Betten gefüllt gewesen.
In Winterthur stehen maximal acht Plätze für Frauen und ebenso viele für Kinder bereit. Sie hätten aussergewöhnlich viele Frauen aus anderen Kantonen aufgenommen, sagt Niemeyer. Unschön für die Opfer sei:
«Wenn im eigenen Kanton wieder Plätze frei werden, müssen Frauen und Kinder wieder wechseln.»
Katja Niemeyer, Geschäftsleiterin Frauenhaus Winterthur
Hier brauche es politische Lösungen, denn auch ausserhalb der Pandemie komme es manchmal zu Überlastungen. Kantonale Beiträge sollten überall gleich hoch ausfallen, schutzbedürftige Personen dort bleiben können, wo sie bereits Vertrauen aufgebaut hätten, fordert Niemeyer.
Hilferufe kamen womöglich verzögert
Wieso der Anstieg zunächst ausblieb und gegen Herbst dann doch kam, darüber lässt sich laut Niemeyer nur mutmassen. Nach der Aufhebung des Lockdown kehrten Kinder in die Schulen zurück, Partner an ihre Arbeitsplätze. «Damit hatten auch mehr Frauen wieder die Möglichkeit, Hilfe zu holen», sagt Niemeyer. Das Muster würde ihr Team von Festtagen und Schulferien kennen. «Wir wappnen uns jeweils auf die Wochen danach.» Es brauche immer Zeit, bis sich Opfer getrauen, sich bei einem Frauenhaus zu melden. Eine mögliche Erklärung sei also, dass die Hilferufe verzögert kamen.
Ähnliches beobachtet die Kantonspolizei Zürich. Während des Lockdown hätten ihre Einsätze im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt auf hohem Niveau stagniert, erst danach seien die Zahlen angestiegen, schreibt Mediensprecher Florian Frei. «Eine Erklärung für den gleichbleibenden Verlauf während des Lockdown ist, dass die Opfer aufgrund der vermehrten Anwesenheit der Täter weniger Möglichkeiten hatten, sich zu melden.»
Höchstwert bei der Kapo
Gegen Jahresende zeichne sich zwar eine leichte Entspannung ab, so Frei. Für 2020 rechnet die Kantonspolizei in Bezug auf häusliche Gewalt insgesamt aber mit einem neuen Höchstwert, wie eine Hochrechnung zeigt. Es dürfte deutlich über zehn Prozent mehr Fälle geben verglichen mit dem vergangenen Jahr. Im letzten Jahr waren es rund 2900. Frei vermutet, dass Opfer eher bereit sind, sich Hilfe zu holen. Der Regierungsrat definierte das Thema häusliche Gewalt 2019 zum Legislaturschwerpunkt, die Kapo lancierte gemeinsam mit der kantonalen Staatsanwaltschaft und Opferberatungsstellen die Kampagne «Stopp Gewalt gegen Frauen».
Während sich die Kantonspolizei vermehrt mit häuslicher Gewalt auseinandersetzte, stellt die Stadtpolizei Winterthur im Vergleich mit dem Vorjahr keine Zunahme fest. Das sagt Mediensprecher Adrian Feubli auf Anfrage. Noch Ende November klang es anders. Auf die Frage, wie sich Corona auf die alltägliche Arbeit der Stadtpolizei auswirke, sagte Kommandant Fritz Lehmann bei einem Rundgang: «Häusliche Gewalt und die Anzahl Raubüberfälle nehmen zu.» Zu dem Zeitpunkt habe es tatsächlich eine punktuelle Zunahme gegeben, erklärt Feubli. Mit 32 Einsätzen wegen Streitereien innerhalb von Familien und häuslicher Gewalt innert zweier Wochen seien sie fast doppelt so viel ausgerückt wie in denselben Wochen im Vorjahr. In den folgenden Wochen seien die Fälle aber wieder stark zurückgegangen. Im Rückblick seien die Fallzahlen im Vergleich zum Vorjahr nur im Frühling leicht höher gelegen.
Die Situation entspannt sich
Seit etwas mehr als einer Woche beruhigt sich die Situation auch im Winterthurer Frauenhaus. «Wir haben wieder ein paar leere Plätze», so Geschäftsleiterin Niemeyer. Grundsätzlich sei das Coronavirus im Frauenhaus selten Gesprächsthema. In der Krisenintervention stünden dringliche Fragen im Vordergrund, etwa: Soll ich mich von meinem Partner trennen? Wie läuft das mit dem Besuchsrecht? Soll ich in eine eigene Wohnung ziehen? Corona treibt die Leiterin trotzdem um:
«Mein Horrorszenario ist, dass wir plötzlich eine positive Klientin im Haus haben»
Katja Niemeyer
Sorgen seien etwa, dass gewisse Klientinnen wohl pflegerisch oder medizinisch betreut werden müssten. «Hier fehlt uns das ausgebildete Personal.» Weil das Frauenhaus höchsten Wert auf Anonymität der Bewohnerinnen lege, «kann ich nicht einfach irgendwelche Personen reinholen». Unklar sei auch, wie traumatisierte Frauen oder Kinder reagieren würden, wenn sie ihr Zimmer nicht verlassen könnten. Die Situation mit überfüllten Frauenhäusern sei nicht neu, der Umgang mit einer Pandemie hingegen schon.
In der Weihnachtszeit kriselt es häufig
Bei einer anderen Anlaufstelle, dem Frauen-Nottelefon Winterthur, läuft laut Beraterin Karin Moos im Moment viel. Das sei jedoch bereits im vergangenen Jahr so gewesen. Genaue Zahlen würden sie erst im neuen Jahr auswerten. Klar sei aber: «Die Vorweihnachtszeit ist auch ohne Corona in vielen Familien stressig, und Konflikte entladen sich schnell.» Wegen der Pandemie falle zusätzlich die Unterstützung durch die erweiterte Familie oder sonstige Kontakte weg. Aktivitäten ausserhalb der Familie würden eingeschränkt. Die Folgen dürften sich auch hier verzögert zeigen.
Das Frauenhaus Winterthur ist täglich 24 Stunden erreichbar unter der Nummer 052 213 08 78. Die Nummer des Frauen-Nottelefons Winterthur lautet: 052 213 61 61. Die Fachstelle Opferberatung Zürich berät seit kurzem auch via Chat: https://online.obzh.ch/chat (Mo–Fr, 12–18 Uhr).
*Dieser Artikel wurde am 17. Dezember 2020 auf www.landbote.ch publiziert.
Das Titelbild stammt vom Frauenhaus Winterthur.