«An manchen Tagen wird mir alles zu viel»

In der Pandemie haben viele Angestellte ihren Job verloren, darunter auch Phimphagaan Clemens und Tseyang Chukawötsang. Innert eines Jahres stieg die Arbeitslosenquote der Stadt Winterthur um mehr als einen Prozentpunkt.

Text: Nina Thöny, Fotos: Marc Dahinden

Die Rechnung ist einfach: weniger Flüge, weniger Uniformen, weniger Jobs. Phimphagaan Clemens hat bis Ende September in einem Shop am Flughafen Zürich gearbeitet, in dem unter anderen Mitarbeitende der Swiss ihre Uniformen beziehen. Ende Juni letzten Jahres erhielt die 23-Jährige die Kündigung, betriebsbedingt. Seither ist sie auf Stellensuche. Manchmal sei sie einfach frustriert, sagt Clemens. «Es gibt Tage, an denen mir alles zu viel wird, obwohl ich ja gar nicht viel machen kann.»

Auch Tseyang Chukawötsang erhielt im letzten November die Kündigung. Ein paar Monate, bis Ende Januar, hat sie als Ersatz für eine kranke Kollegin in der Mensa der Kantonsschule Rychenberg gearbeitet, zuvor während rund sechs Jahren in der Hauptküche der SV Group im Technikum der ZHAW. «Das macht mich sehr traurig», sagt die 52-Jährige. Und doch verstehe sie ihren Chef. Es würden ja kaum mehr Leute essen in den Kantinen. Doch die Situation von Frau Chukawötsang ist schwierig, denn ihr Mann ist seit Herbst ebenfalls arbeitslos. Auch seine Stelle als Koch in einem Restaurant wurde gestrichen.

Tseyang Chukawötsang hat rund sechs Jahre in der Kantine beim Technikum gearbeitet. Nun ist sie auf Stellensuche.

Viel Frustration erlebten derzeit auch die Mitarbeitenden des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV) Winterthur, sagt Leiter Jürgen Fackelmayer:

«Wir merken, dass die Geduld der Stellensuchendenden strapaziert ist.»

Jürgen Fackelmayer, Leiter RAV Winterthur

Viele reagierten sensibler, wenn Beratende sich kritisch äusserten und beispielsweise eine Person darauf hinwiesen, wie schwierig sie zu erreichen gewesen sei.

Über 261’000 Personen suchen schweizweit einen Job

Und die Situation am Arbeitsmarkt bleibt angespannt. Über 261’000 Personen waren laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) Ende Januar auf Stellensuche. So viele wie noch nie seit der Jahrtausendwende. Allein die Stadt Winterthur zählte Ende Januar rund 2100 Arbeitslose, sprich Personen, die beim RAV gemeldet sind. Das sind 635 Personen mehr als noch im Vorjahresmonat. Das zeigen Zahlen, die das Amt für Wirtschaft und Arbeit auf Anfrage des «Landboten» zusammengestellt hat.

Die Arbeitslosenquote der Stadt stieg demnach von 2,3 Prozent im Januar 2020 auf 3,4 im Januar 2021. Besonders viele neue Arbeitslose wurden im vergangenen März gemeldet. Danach blieben die Zahlen über mehrere Monate relativ stabil. Doch im Dezember und Januar stiegen sie erneut an. Jürgen Fackelmayer ist seit über fünf Jahren Leiter des RAV Winterthur, das für die Bezirke Winterthur und Andelfingen zuständig ist. Er sagt:

«Seit ich hier angefangen habe, waren noch nie so viele Leute auf Stellensuche wie jetzt.»

Jürgen Fackelmayer, Leiter RAV Winterthur

Um die vielen Arbeitslosen zu unterstützen, habe man beim RAV in Winterthur im letzten Jahr sieben zusätzliche Mitarbeitende eingestellt, so Fackelmayer. Noch mehr Personen will der Leiter aber nicht einstellen, «sonst müssen wir sie in ein paar Monaten wieder entlassen». Deshalb ist die Belastung hoch: Ein Angestellter, der Vollzeit arbeitet, ist gemäss Fackelmayer derzeit für durchschnittlich 150 Dossiers zuständig statt der sonstigen 120 bis 130.

Bewerbende warten länger oder hören gar nichts

Nicht nur suchen aktuell besonders viele Personen einen Job. Die Stellensuche während der Pandemie sei auch sonst herausfordernder als zu anderen Zeiten, erzählen Tseyang Chukawötsang und Phimphagaan Clemens. Clemens sagt, sie verschicke jeden Monat rund zehn Bewerbungen. Ursprünglich hat sie Schneiderin gelernt. Doch in diesem Bereich seien die Stellen schon vor der Pandemie knapp gewesen. Bei einer Änderungsschneiderei in Frauenfeld habe sie zwar im Dezember Probearbeiten können. «Dort würden sie mich gerne einstellen, aber sie haben derzeit einfach zu wenig Arbeit.» Sie bewerbe sich deshalb auch auf Lehrstellen in Kindertagesstätten und im Detailhandel. Vor drei Jahren war Clemens schon einmal arbeitslos, fand damals jedoch innert dreier Monate eine neue Stelle. Jetzt merkt sie:

«Ich warte im Moment viel länger auf Rückmeldungen.»

Phimphagaan Clemens, Stellensuchende aus Winterthur

Tseyang Chukawötsang erzählt, sie kriege aktuell häufig gar keine Antwort. Nur auf drei Bewerbungen habe sie eine Rückmeldung erhalten, und das, obwohl sie jeden Monat mindestens zehn und manchmal bis zu zwanzig Bewerbungen verschicke. Rufe sie an, gehe meistens niemand ran. «Das macht einen schon nervös», sagt sie. Mehrmals pro Tag schaue sie nach, ob sie eine Mail erhalten habe. Auch sie bewirbt sich zusätzlich in anderen Branchen, etwa als Putzfrau oder als Haushaltshilfe. Lieber aber würde sie in der Gastronomie tätig bleiben: «Ich arbeite gerne in grossen Küchen», sagt Chukawötsang.

Bewerbungsgespräche via Videocall

Fackelmayer stellt in der aktuellen Situation zwei grosse Veränderungen fest in Bezug auf die Stellensuche. Für Arbeitslose aus Branchen wie Gastronomie, Hotellerie, Tourismus und Eventorganisation sei es sehr schwierig, überhaupt freie Stellen zu finden. Das würde man beim RAV aber berücksichtigen und entsprechend die Anforderungen anpassen. Stellensuchende müssten etwa weniger Bewerbungen schreiben. Und zweitens führten die meisten Firmen ihre Bewerbungsgespräche im Lockdown per Video durch.

Beim RAV hörten sie immer wieder: «Das ist das erste Mal, dass ich das mache.» Viele Stellensuchende seien zudem reduziert auf ihr Handy. Etwa, weil sie keinen Laptop hätten oder weil Mikrofon und Kamera nicht funktionierten. Üben könnten sie die Situation in Gesprächen mit den Beratenden des RAV. «Es ist gut, wenn die Stellensuchenden zuerst mit uns Videocalls ausprobieren», sagt Fackelmayer. Die Beratenden könnten Tipps geben. Dass die Person beispielsweise nicht mehr vor ein Fenster sitzen soll, weil man sie dann im Video nicht gut sehen kann.

Auch die Beratungsgespräche des RAV finden vorläufig nur telefonisch oder via Videokonferenz statt. Denn alle RAV im Kanton sind seit Mitte Januar für den Publikumsverkehr geschlossen. Die Mitarbeitenden würden ihr Bestes geben, um die Qualität der Gespräche zu erhalten, sagt Fackelmayer. Aber: «Es kann einen Unterschied machen, ob ein Stellensuchender alle sechs Wochen einen Anruf einer Beraterin erhält oder ob er ihr vis-à-vis sitzt.» Zu anderen Zeiten könnten sie Stellensuchende zu einem Kontrolltermin einladen. Diese Option falle jetzt weg. Man könne nur versuchen, die Personen telefonisch zu erreichen.

Arbeitslosengeld bringt nur kurzfristig Erleichterung

Phimphagaan Clemens sagt, sie fühle sich trotzdem gut aufgehoben beim regionalen RAV. Und dank des Arbeitslosengeldes könne sie ihre Rechnungen im Moment alle bezahlen. Weil sie noch zu Hause bei ihren Eltern wohne, könne sie sich zudem die Miete sparen.

Tseyang Chukawötsang kriegte im Januar ihren letzten Lohn. Die Beiträge aus der Arbeitslosenkasse für sie und ihren Mann würden vorübergehend reichen, um die Ausgaben zu finanzieren, sagt Chukawötsang. Doch die Beiträge ihres Mannes liefen im Juni aus. Sie sagt:

«Das bedeutet einen extremen Stress für uns.»

Tseyang Chukawötsang, Stellensuchende aus Winterthur

Bis dahin müssten sie eine Lösung finden. Eine Option sähen sie darin, ein Take-away aufzubauen oder einen Imbisswagen zu betreiben. «Wir kochen beide sehr gut», sagt sie. Indisch, nepalesisch, chinesisch oder auch Pasta. Aber es sei unglaublich schwierig, in Winterthur einen Standplatz zu finden.

Fackelmayer rechnet damit, dass die Arbeitslosenzahlen in Winterthur in den nächsten Monaten und bis  Sommer weiter ansteigen werden. Zwar nicht stark, aber stetig. Längerfristig aber ist er optimistisch: «Für die zweite Jahreshälfte kann ich mir eine Entspannung vorstellen, wenn Impfungen und Schutzmassnahmen entsprechend gut wirken.» Öffneten alle möglichen Betriebe wieder ihre Türen, dann werde sich das ziemlich sicher auch auf den Arbeitsmarkt auswirken, und es würden wieder mehr Leute einen Job finden.


*Dieser Artikel wurde am 24. Februar 2021 auf www.landbote.ch publiziert.

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