Wenn schon ein wenig Milch lebensgefährlich ist

Für den neunjährigen Sohn von Sandra Kopp sind bereits geringe Mengen von Lebensmitteln wie Milch, Fisch und Eier eine Gefahr. Die Familie muss achtgeben und hat immer ein Notfallset mit Adrenalinspritze dabei.

Text: Nina Thöny, Fotos: Marc Dahinden

«Wir sind im Restaurant, als die Lippen und Mundschleimhäute unseres Sohnes anschwellen. Sein Gesicht wird grün und blass. Es ist ihm übel, er hat Bauchschmerzen. Er sieht furchtbar aus.» So schildert Sandra Kopp in einem Blogbeitrag einen Vorfall, der sich vor rund viereinhalb Jahren abgespielt hat. Die Familie Kopp sass damals in einem Restaurant in Südtirol, der älteste Sohn isst ein Sorbet, ein allergenfreies. Doch am Glace-Portionierer sind Spuren von Milch. Sie reichen, um die starken Reaktionen des damals rund fünfjährigen Buben auszulösen.

Die Eltern reagieren schnell. Dank Antihistaminika und Cortison geht es ihrem Sohn bald besser. So dramatisch ist der Alltag der Familie Kopp glücklicherweise selten. Aber nur deshalb, weil sie sich angepasst hat. In ihrem Haushalt gebe es beispielsweise keine Milchprodukte, sagt Kopp. Das sei zwar einschneidend, «aber mit seinen beiden jüngeren Geschwistern ist es viel entspannter so».

Der älteste Sohn war vier Monate alt, als sich seine Backen stark röteten und sich auch an seinen Armen und Beinen Wunden bildeten, die nässten, verkrusteten und sich entzündeten: Neurodermitis. Kopp erinnert sich: «Wir cremten und badeten ihn viel.» Dadurch sei es zwar etwas besser geworden, doch die Ekzeme kehrten zurück. Mit Bluttests stellten die Ärzte ein paar Wochen später fest, dass das Baby allergisch auf Milch und Ei reagiert. Bald wird der Junge zehn Jahre alt, und mittlerweile verzichtet er zusätzlich auf Soja, Nüsse, Fisch, Hülsenfrüchte, Weizen und Gluten. Letzteres, wegen einer chronischen Entzündung seiner Speiseröhre.

In die Ferien nimmt die Familie ein Schneidbrett mit

An einem Freitagmorgen schreitet Sandra Kopp mit zwei grossen Stofftaschen durch die Steinberggasse, unter der Kappe lugt ihr lockiges Haar hervor. Beim einen Gemüsestand macht sie halt, greift einen Wirz und streckt ihn der Verkäuferin hin. «Ist der Lauch auch von da?» Ist er. Sie nimmt zwei Stangen und noch Nüsslisalat. «Der Markt ist für mich wie ein Paradies, abgesehen von Bohnen kann ich praktisch alles kaufen», sagt Kopp. Wenn immer möglich gehe sie jede Woche hin.

Auf dem Markt kann Sandra Kopp fast alles kaufen.

In verarbeiteten Nahrungsmitteln hingegen sind häufig Spuren enthalten, die Kopps Sohn schaden könnten. Beispielsweise finde man Milchproteine auch in vielen Crackern, wo man sie gar nicht vermuten würde, sagt Kopp. Und:

«Ich koche deshalb gezwungenermassen das meiste selbst und frisch.»

Sandra Kopp

Ausnahmen seien etwa Pommes Allumettes, «die hat mein Sohn sehr gern», und Fertigrösti ginge teilweise auch. Früher habe sie viele Verpackungen studiert, mittlerweile nur noch selten.

Auch sonst hat sich die Familie Kopp angepasst. In Hotels übernachtet sie praktisch nie, wenn, dann in einem spezialisierten Diätenhotel. Stattdessen mieten die Kopps eine Ferienwohnung, wo sie selbst kochen können. Sandra Kopp sagt: «Vor dem ersten Gebrauch wasche ich das Geschirr nochmals ab.» Denn vielleicht hatten die letzten Gäste Fondue gegessen auf den Tellern. Pfannen aus Edelstahl und Geschirr aus Porzellan könne man gut reinigen. «Ein Schneidbrett, Holzkellen und eine Bratpfanne bringen wir aber immer von zu Hause mit.» Restaurants besuchen die Kopps eher selten. Wenn, dann esse der älteste Sohn Pommes frites.

Viele denken, alles sei nur halb so wild

Gemäss dem «Aha! Allergiezentrum Schweiz» geben in Umfragen 30 Prozent der Bevölkerung an, auf Nahrungsmittel allergisch zu sein. Nachweislich seien es jedoch nur 2 bis 6 Prozent. Häufiger sind Intoleranzen. Bei einer solchen bildet der Körper keine Antikörper, sondern reagiert mit Beschwerden wie Bauchschmerzen auf ein Nahrungsmittel. «Im Gegensatz zu einer Nahrungsmittelallergie ist eine -intoleranz aber nicht lebensbedrohlich», schreibt das Zentrum auf seiner Website.

Diesem falschen Verständnis begegnet Sandra Kopp häufig:

«Viele Leute wissen gar nicht, wie gefährlich Lebensmittelallergien sein können.»

Sandra Kopp

Sie dächten beispielsweise, dass ihr Sohn einfach einen kleinen Hautausschlag kriege. Isst dieser aber von kontaminiertem Geschirr oder nimmt Spuren zu sich, würden seine Schleimhäute anschwellen, es werde ihm schlecht, er kriege Bauchweh oder müsse erbrechen. Im schlimmsten Fall würde er einen sogenannten anaphylaktischen Schock erleiden, bei dem der Kreislauf versagen kann.

Das Notfallset ist immer in der Nähe

Um das zu verhindern, besitzen die Kopps Notfallsets. Darin enthalten sind Antihistaminika, ein Cortisonpräparat, ein Inhalator und eine Adrenalinspritze. Ein Set bleibt im Schulzimmer des Jungen, ein zweites hat die Familie Kopp zu Hause. Gehen sie in den Wald oder ins Restaurant, nehmen sie es immer mit. Es komme auf die Symptome an. Kriege ihr Sohn einen Ausschlag, dann könne er ein Antihistaminikum nehmen, bei Atemnot müsse er inhalieren. Das Cortisonpräparat gäben sie ihm, wenn das Antihistaminikum nicht reiche oder die Symptome stark seien. Drohe ein Kreislaufkollaps, komme zuletzt die Adrenalinspritze zum Einsatz. Mittlerweile könne ihr Sohn das auch selbst, sagt Kopp. «Bisher brauchten wir die Spritze aber noch nicht.»

Ist Angst ein ständiger Begleiter? «Nein, nicht mehr», antwortet Kopp. Es sei einfacher geworden, jetzt, da ihr Sohn älter ist. Nun kann er sich ausdrücken und erklären. Manchmal aber habe sie Sorgen, wenn sie daran denke, was noch auf ihren Sohn zukommen werde. Weil Essen in der Gesellschaft doch eigentlich mit so viel Genuss verbunden ist. «Ich hoffe, dass er gut mit seiner Situation umgehen und Selbstbewusstsein entwickeln kann», sagt Kopp. Da sei sie wohl ähnlich wie andere Mütter.

Der Sohn spricht lieber über anderes

Ihr Sohn selbst spreche nicht besonders gerne über seine Allergien, lieber über anderes. Deshalb nennt Kopp gegenüber dem «Landboten» auch seinen Vornamen nicht. Er sei viel draussen mit seinen Freunden, bewege sich gern. Autos interessierten ihn sehr, Computerspiele lösten mittlerweile die Legos ab. Aber es gebe Tage, da regten ihn seine Allergien auf, und er würde gerne etwas essen, was er nicht sollte. «Er darf es auch mal verfluchen und hässig sein», findet Kopp. Auch ihr «stinke» es manchmal. Doch sie versuche ihm mit auf den Weg zu geben, sich auf die Möglichkeiten zu fokussieren. So mache sie es auch beim Kochen. Sie konzentriert sich darauf, was ihr Sohn essen kann: Kartoffeln, Fleisch und Salat zum Beispiel. Aber manchmal koche sie für den Rest der Familie auch etwas anderes, Pasta beispielsweise. Sie sagt:

«Wir können nicht immer alle Rösti essen.»

Sandra Kopp

Die Rezepte, die Sandra Kopp über die Jahre entwickelt und angepasst hat, sammelt sie auf ihrem Blog Himbeergelb. So habe sie von überall Zugriff darauf – «umso besser», wenn es sonst noch jemandem helfe. Es freue sie immer riesig, wenn sich jemand melde, der mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen habe. Diesen Wunsch nach Austausch trieb Sandra Kopp auch dazu, eine Selbsthilfegruppe zu Nahrungsmittelallergien zu initiieren. Bisher habe sich noch niemand gemeldet. Vielleicht müssten sie die Gruppe ausweiten auf weitere chronische Erkrankungen wie Diabetes.

Sandra Kopp fände es sinnvoll für ihren Sohn, wenn er andere Kinder kennen lernen und erfahren würde, wie sie mit ihrer jeweiligen Situation umgingen. Zumal er sich immer mehr daran störe, dass er eine Ausnahme sei. «Wir besprechen das dann mit ihm, wenn wir andere Familien finden.» Hoffnung setzt Kopp auch in die Forschung, die nach medikamentösen Therapien sucht.


*Dieser Artikel wurde am 22. Februar 2021 auf www.landbote.ch publiziert.

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