Valeria Brucato dolmetscht am Gericht und bei Einvernahmen vom Deutschen ins Italienische und umgekehrt. Sie muss Distanz wahren, selbst dann, wenn ihr ein Beschuldigter Fotos seiner Kinder zeigt.
Text: Nina Thöny, Foto: Enzo Lopardo
Das erste Mal am Gericht schüttelte Valeria Brucato Ovenstone allen die Hände: der Richterin, der Gerichtsschreiberin und der Auditorin – «Grüezi». Die drei Frauen schauten Brucato verdutzt an. Diese merkte, dass sie irgendetwas falsch gemacht hatte. Erst nach der Verhandlung aber erfuhr sie, was: Es sei am Gericht nicht üblich, dass man die Richterin begrüsse, erklärte man ihr.
Gut zwei Jahre ist das nun her. An diesem Donnerstag im Juli schreitet Valeria Brucato zügig auf den einen Bürostuhl im Hauptsaal des Bezirksgerichts Winterthur zu, links aussen am halbrunden Tisch. Sie nimmt dort Platz, um für einen jungen Mann zu dolmetschen, der wegen versuchter schwerer Körperverletzung angeklagt ist.
Als Gerichtspräsident Andreas Oehler die Verhandlung eröffnet, sitzt Valeria Brucato vorne auf der Stuhlkante. Das Gesprochene notiert sie blitzschnell. Oehler geht Schritt für Schritt die Anklageschrift durch. Während fast dreier Jahre soll der Beschuldigte seine Ehefrau immer wieder geschlagen und bedroht haben, bei einzelnen Vorfällen auch seinen kleinen Sohn. Die Vorwürfe füllen fünf Seiten. Immer wieder fragt der Richter den Mann: «Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?» Brucato wiederholt auf Italienisch. Dabei blickt sie den Beschuldigten durch eine Plexiglasscheibe an. «Dass es nicht wahr ist», dolmetscht sie dann die Antwort des Mannes, «es war einfach der Plan meiner Frau, mein Leben zu zerstören.»
Als Kind übersetzte sie für die Eltern
Brücken bauen, vom Italienischen ins Deutsche und umgekehrt, gehört für Valeria Brucato zu ihrem Alltag, so weit sie zurückdenken kann. Als Kind übersetzte sie für ihre Eltern Behördenbriefe und vermittelte bei Arztbesuchen. Ihre Mutter und ihr Vater stammen beide aus Sizilien, in den 60er-Jahren kamen sie in die Schweiz. «Das hat mich geprägt», sagt die 46-Jährige drei Wochen vor der Verhandlung bei sich zu Hause. Sie wohnt mit ihrem Mann und den drei Töchtern in einem Haus mit Blick über Winterthur. Durchs offene Fenster dringt unablässig das Zwitschern von Vögeln.
Valeria Brucato hat an der Dolmetscherschule studiert. Danach dolmetschte sie jedoch nur selten. Hauptsächlich übersetzte sie schriftlich Texte, auch aus dem Englischen und Französischen, und leistete Support für die Anwendung von Übersetzungssoftware. Zuletzt war sie Teamleiterin im Sprachdienst der Versicherung Axa. Als ihre zweite Tochter zur Welt kam, entschied sie sich für eine Pause. Sie habe lange überlegt, sagt sie. «Ich gab beruflich doch einiges auf.» Doch sie habe nichts verpassen wollen, solange die Kinder klein seien.
Im Kanton Zürich professionalisierte derweil das Obergericht das Gerichtsdolmetschen, führte einen Kurs und eine Zulassungsprüfung ein. Valeria Brucato erfuhr in ihrer Auszeit davon und wollte es selbst ausprobieren. «So habe ich einen neuen Zugang gefunden zum Dolmetschen», sagt sie. Als Gerichtsdolmetscherin vermittelt sie zwischen Parteien, stellt sicher, dass sich alle verstehen. Sie sagt:
«Für die Beschuldigten geht es wirklich um die Wurst.»
Valeria Brucato, Gerichtsdolmetscherin
Das sei sinnstiftend.
Das Telefon als ständiger Begleiter
Valeria Brucato beschreibt sich selbst als genau und sorgfältig. Im Gespräch konzentriert sie sich auf ihr Gegenüber, sucht Augenkontakt. Vor ihr liegt ihr Mobiltelefon, es ist auf laut gestellt. «Ich habe es immer bei mir, falls jemand wegen eines Auftrags anruft», erklärt sie. Bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft müsse es schnell gehen. Erstere muss Festgenommene innert 24 Stunden befragen und wieder entlassen, ausser sie führt sie der Staatsanwaltschaft zu. Befragungen finden deshalb auch mitten in der Nacht statt. Gehe sie nicht ans Telefon, sei der Auftrag vielleicht schon an jemand anderen vergeben. Einvernahmen seien häufiger als Gerichtsverhandlungen, sagt Brucato. Am Gericht sei sie nur ein paarmal pro Jahr.
Zürcher Gerichtsdolmetschende übersetzen in über 100 Sprachen
Wer im Kanton Zürich an Gerichten und bei Strafbehörden dolmetschen will, muss sowohl Deutsch als auch die Zweitsprache auf dem höchsten Niveau (C2) beherrschen. Das sagt Tanja Huber, die Leiterin der Fachgruppe Sprachdienstleistungen, die dem Obergericht angegliedert ist. Zudem müsse die Person über eine gute Allgemeinbildung verfügen und sich ein gewisses juristisches Hintergrundwissen aneignen. In persönlicher Sicht benötige die Person insbesondere einen einwandfreien Leumund, sie darf beispielsweise keine Einträge in Straf- oder Betreibungsregister haben.
Der Kanton Zürich gilt als Vorbild in Sachen Professionalisierung. Er führte 2005 einen zweieinhalbtägigen Kurs und eine Prüfung ein, die Voraussetzung sind für die Aufnahme ins kantonale Verzeichnis. Solothurn, Basel-Land und Basel-Stadt, Schaffhausen und Zug haben sich dem Zürcher System angeschlossen.
Mitte Juli waren laut Huber im Verzeichnis des Kantons Zürich rund 520 Personen erfasst, davon zwei Drittel Frauen. Sie dolmetschen in über 100 Sprachen, sowohl in geläufigere wie Englisch, Französisch und Italienisch, aber auch seltenere wie die afrikanische Sprache Wolof oder Nepalesisch. Pro Jahr gebe es im Kanton an Gerichten und bei Strafbehörden ungefähr 26’000 Dolmetscheinsätze. Mit etwa 15 Beanstandungen jährlich kommt es vergleichsweise selten zu Reklamationen. Dabei gehe es fast ausschliesslich ums Rollenverständnis, wenn etwa eine Dolmetscherin während einer Befragung Partei ergreife. «Es ist sehr wichtig, dass die Dolmetschenden ihre eigenen Meinungen und Emotionen zurückbinden können», sagt Huber. Dies sei eine grosse Herausforderung.
Gerichtsdolmetschende unterstehen Pflichten, sie müssen etwa wahrheitsgetreu übersetzen. Wer an einem Verfahren wissentlich und absichtlich falsch dolmetscht, riskiert in der Schweiz eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder eine Geldstrafe. Das nehme sie ernst, sagt Valeria Brucato. «Angst habe ich aber nicht, denn ich bin absolut integer und ehrlich.» Wüsste sie etwas nicht, würde sie das sagen.
Wer am Gericht dolmetscht, muss zudem neutral und unparteiisch sein. Eine Herausforderung, bestätigt Brucato. Zumal die Leute ihre Fehler in der Regel bereuten. Gerade bei Einvernahmen hätten Beschuldigte teilweise noch keinen Anwalt. «Manchmal suchen sie dann Rat bei mir, weil ich als Einzige ihre Sprache spreche.» Sie sage jeweils, die Person soll ihre Frage einem Anwalt oder einem Polizisten stellen. Zwar habe sie sich ein juristisches Grundwissen angeeignet, doch sie sei keine Juristin und wolle den Leuten «keinen Seich» erzählen. Während Pausen ziehe sie sich deshalb lieber zurück.
Fälle häuslicher Gewalt gehen ihr nah
Am Bezirksgericht wird deutlich, wie schwierig es für die Dolmetscherin in der Praxis ist, sich abzugrenzen. Der Richter befragt auch die vom Beschuldigten getrennt lebende Ehefrau. Dieser muss währenddessen im Nebenraum Platz nehmen. Auf einem grossen Bildschirm beobachtet er, wie sie die Hand ihrer Begleiterin fest umklammert und wie zwischendurch ihre Stimme versagt. Danach muss der Mann warten, bis seine Ehefrau das Gericht wieder verlassen hat.
Er zieht sein Handy aus dem Hosensack und streckt es Valeria Brucato entgegen, auf dem Bildschirmfoto strahlen zwei Buben, seine Söhne. «Das ist der Grosse und das ist der Kleine», sagt er lächelnd. Brucato nickt. Es sei verrückt, sagt sie danach:
«Hört man die eine Seite, klingt sie glaubwürdig. Dann hört man die Gegenseite und auch die ist glaubhaft.»
Valeria Brucato, Gerichtsdolmetscherin
Die Palette an Themen, die Brucato bei Einvernahmen und am Gericht bereits gedolmetscht hat, ist breit. Darunter sind etwa Diebstähle, Unfälle, Beschimpfungen, Bedrohungen und Körperverletzungen. Besonders nah gingen ihr Fälle häuslicher Gewalt. Es sei schlimm, zu sehen, in welchem Dilemma die betroffenen Frauen steckten. «Sie wollen eigentlich ja meistens ihre Familie zusammenhalten, müssen sie aber quasi zerstören.» Weil Gerichtsdolmetschende auf Auftrag arbeiten, können sie Anfragen auch ablehnen. Das würde sie wohl tun, wenn es um Organisierte Kriminalität ginge. Denn damit wolle sie lieber nichts zu tun haben, sagt Brucato.
Nach einem Einsatz abzuschalten, brauche manchmal lange. Brucato sagt:
«Letztlich sind wir einfach Privatpersonen, die in diese Welt reinkommen und wieder gehen.»
Valeria Brucato, Gerichtsdolmetscherin
Eine Welt, die ohne Vermittlerinnen wie Valeria Brucato häufig nicht funktionieren würde.
*Dieser Artikel wurde am 27. Juli 2021 auf www.landbote.ch publiziert.