Er radelt trotz Corona nach Japan

Vor über einem Jahr fuhr Dave Mühlemann (39) mit dem Velo in Winterthur los und ist aktuell in China. Der ausgebildete Pflegefachmann hat über eine Rückkehr nachgedacht, sich aber dagegen entschieden.

Text: Nina Thöny, Fotos: zvg

Während manche Winterthurerinnen und Winterthurer sich überlegen, wo sie ihre Ferien in diesem Jahr verbringen könnten, und lange Reisen verschieben, pedalt Dave Mühlemann derzeit trotz Corona-Krise durch China. Der Winterthurer hat im Februar 2019 rund 24 Kilogramm Gepäck auf sein neues Tourenvelo geladen und ist von seinem Elternhaus in Bauma aus losgefahren. Rund eineinhalb Jahre später hätte er eigentlich bei den Olympischen Spielen in Japan im House of Switzerland als Gästebetreuer arbeiten wollen. Doch diese wurden bekanntlich um ein Jahr verschoben.

Das erzählt Mühlemann bei einem Gespräch über die Video-App Zoom. Einen Tag nachdem er Anfang März die Grenze zwischen Laos und Vietnam überquert hatte, habe er vernommen, dass die Grenzen geschlossen wurden. «Da dachte ich: Schwein gehabt.» Von den Einheimischen habe er zu diesem Zeitpunkt teilweise Abneigung gespürt. Bei einem Café in der Hauptstadt Hanoi beispielsweise sei ein Schild gehangen, auf dem stand, dass Ausländer nicht mehr bedient werden. Und einige Leute seien weggerannt, wenn er sich näherte. Das seien aber Ausnahmen gewesen.

Fasten während der Quarantäne

Auch die Einreise in die Provinz Yunnan im Südwesten Chinas Ende März sei ihm nur ganz knapp vor der Grenzschliessung gelungen, erzählt Mühlemann. Nach einer rund vierstündigen Einreiseprozedur mit unzähligen Formularen und Fragen sei er mitsamt seinem Velo in einen alten Ambulanzwagen verfrachtet und zu einem Hotel gefahren worden. Dort musste Mühlemann 14 Tage in strenger Quarantäne verbringen. Nicht einmal Spazieren im Gang war erlaubt. Jeden Tag hätten Chinesen in weissen Schutzanzügen sein Hotelzimmer mit einem Sprühgerät desinfiziert und zweimal seine Temperatur gemessen. Mühlemann sagt: «Meine Eltern und meine Freunde dachten, es sei schlimm. Ich fand die Quarantäne aber gut zum Entschleunigen. Faulenzen war schon immer eine meiner Kernkompetenzen.» Am ersten Abend habe er zudem spontan entschieden, während der Quarantäne zu fasten. «Gluscht hatte ich zwischendurch natürlich schon, aber insgesamt ging das gut.»

Seit rund einem Monat ist Mühlemann nun wieder unterwegs. Sein nächster Fixpunkt sind die Olympischen Spiele in Japan im Sommer 2021. «Die Verschiebung der Spiele sehe ich nicht nur negativ: Ich habe nun mehr Zeit, um Japan zu entdecken.» In China werde er sicher noch zwei Monate lang unterwegs sein. Danach will Mühlemann mit der Fähre nach Südkorea gelangen, bevor er voraussichtlich nach rund einem Monat wiederum mit dem Schiff nach Japan übersetzt. Vor den Olympischen Spielen suche er sich entweder noch ein weiteres Reiseziel in Asien oder kehre doch noch für ein paar Monate in die Schweiz zurück, um seine Reisekasse aufzubessern. Eigentlich will Mühlemann aber so wenig wie möglich fliegen:

«Mich fasziniert, wie weit man auf dem Landweg kommen kann.»

Dave Mühlemann

Sein Visum für China habe er ohne Probleme um 60 Tage verlängern können. Als er nach der Quarantäne losfuhr, sei er innerhalb von 60 Kilometern dreimal von der Polizei kontrolliert worden. «Ich dachte, wenn das so weitergeht, komme ich nirgends hin.» Seither sei er aber über 1800 Kilometer ohne jegliche Polizeikontrolle gefahren. Man dürfe sich frei bewegen, nur die Grenzgebiete würden stark kontrolliert, so Mühlemann. Eine Maske trage er unterwegs nur in manchen Läden. Bei allen Cafés und Shops habe es beim Eingang Strichcodes, die man mit einer App scannen müsse. Zeigt die App Grün an, könne man eintreten. «Bislang bestehen aber vielleicht fünf Prozent darauf, dass ich den Code scanne.» Dann lese er diesen mit der App ein, ansonsten verzichte er darauf: «Ich will keine riesige Datenspur hinterlassen.»

Die Bevölkerung in China erlebt Mühlemann in der aktuellen Situation ihm gegenüber viel weniger ablehnend als diejenige in Vietnam. Die meisten Chinesen seien sehr gastfreundlich. «Als ich einmal einen Berg rauffuhr, hielt mir ein Mann in einem vorbeifahrenden Auto einen Energydrink aus dem Fenster.» Er habe auch schon ganze Mahlzeiten geschenkt bekommen und bei einer Familie gratis übernachten dürfen. Nur bei der Hotelsuche habe es manchmal Probleme gegeben. Dreimal habe die Polizei vermittelt. «Einmal konnte ich danach sogar mit Rabatt übernachten», erzählt Mühlemann.

Kurzzeitig schlechtes Gewissen

Mühlemann hat 2017 seine Ausbildung zum Pflegefachmann abgeschlossen. «Zuerst hatte ich ein paar Tage lang ein schlechtes Gewissen. Ich dachte, dass ich zu Hause gebraucht würde.» Dann aber habe er gelesen, dass die Spitäler in der Schweiz Kurzarbeit anmeldeten, und mit früheren Arbeitskollegen vom Kantonsspital Winterthur gesprochen. Auf der Intensivstation hätte er mit seiner Ausbildung sowieso nicht arbeiten können, so Mühlemann. Nun geniesse er die leeren Touristen-Hotspots mit gutem Gewissen.

«Ich sehe es als Privileg, dass ich als einer der wenigen noch reisen kann.»

Dave Mühlemann

Den Beruf in der Pflege habe er auch deshalb gewählt, weil er krisensicher sei. Er würde jederzeit wieder einen Job finden, ist Mühlemann überzeugt. Auf seinem früheren Beruf als Reisefachmann habe er nach der Ausbildung keinen einzigen Tag arbeiten können, weil damals nach der Finanzkrise auch niemand reisen ging. Mühlemann sagt über sich selbst: «Ich bin nicht der Karrieretyp.» Ursprünglich habe er die Lehre als Kaufmann gemacht, gearbeitet habe er auch schon als Pizzaiolo und beim Zirkus Nock im Büro.

120 Kilometer pro Tag

Das Velofahren hat Mühlemann 2013 für sich entdeckt. Damals fuhr er nach Marokko. Zuvor und auch bis zur jetzigen Reise habe er praktisch nie Sport gemacht. Auf seiner aktuellen Reise sass Mühlemann bereits 186 Tage auf dem Sattel. An einem durchschnittlichen Velotag fährt er rund 120 Kilometer, insgesamt hat er schon fast 25’000 Kilometer zurückgelegt. Ein unerwarteter Höhepunkt sei der Norden Pakistans gewesen: «Die gebirgige Landschaft mit mehreren 7000ern war gewaltig.»


*Dieser Artikel wurde am 11. Mai 2020 auf www.landbote.ch publiziert.

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